Seit Jahren vewende ich Cannabis als Erweiterung des therapeutischen Spektrums.
Für die meisten Störungen und Erkrankungen gibt es einen Stand des Wissens, aus dem sich Konsequenzen für das konkrete praktische Vorgehen ergeben. Oft ist dieses Wissen in Leitlinien formuliert.
Die Anwendung von cannabisbasierten Medikamenten hat dabei im Allgemeinen den Stellenwert einer Zweit- oder Drittlinientherapie, oder eines „individuellen Heilversuches“.
Andererseits ist die Anwendung von cannabisbasierten Medikamenten oft plausibel, oder wurde in Selbstheilungsversuchen von Patienten schon als wirksam und nebenwirkungsarm erkannt.
Es ist grundätzlich möglich, von dem in Leitlinien angegebenen Behandlungspfad abzuweichen und eine Behandlungsoption vorzuziehen. Dafür sind aber gute Gründe zu dokumentieren. Um nur eine Verschreibung durchführen zu können, werden auch Patientenpräferenzen und Erfahrungen als wichtiges Entscheidungskriterium dienen können. Wenn es um die Erstattung durch die Krankenversicherung geht, ist aber im Allgemeinen die vollständige Einhaltung des Behandlungspfades zu dokumentieren.
Ich verschreibe jedenfalls cannabisbasierte Medikamente ausschließlich im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes in dem zumindest eine genaue Diagnose gestellt und ein Behandlungsziel formuliert werden und eine Überprüfung des Erreichens des Behandlungszieles gewährleistet ist.
Meine ersten Erfahrungsberichte über die Anwendung von Cannabis sammelte ich bei meiner Tätigkeit in einer Drogeneinrichtung, die ich kurz nach meiner Facharztausbildung aufnahm.
Erstmals hatte ich Kontakt zu sehr vielen Menschen, die Cannabis konsumierten. Tatsächlich tat das der Großteil meiner Drogenpatienten, auch wenn der eigentliche Grund der Behandlung eine Opiatabhängigkeit war. In vielen Gesprächen berichteten mir meine Patienten über Wirkungen, Nebenwirkungen, unterschiedliche Wirkungen je nach benutztem Produkt und Anwendungsform.
Ich lernte in diesen Gesprächen vor allem die beruhigende, schlaffördernde, in sozial herausfordernden Situationen entspannende, die Selbstsicherheit fördernde Wirkung kennen. Außerdem lernte ich, dass Cannabiskonsumenten meist wenig, bis gar keinen Alkohol konsumierten.
Zwei meiner Patienten benutzten Cannabis zur Linderung der Symptome ihres Tourette-Syndroms (unkontrollierte,ruckartige Bewegungen der oberen Körperhälfte und unkontrollierte Lautbildungen, manchmal Schimpfwörter). Ich wurde darauf aufmerksam, als im Wartezimmer auf einmal laut und deutlich „geh scheißen!!!“ „Oaschloch, Oaschloch, geh scheißen…“ gerufen oder besser gesagt ausgestoßen wurde. Ich wollte schon erbost ins Wartezimmer meiner damaligen sehr schönen Privatordination laufen und den Anwesenden, den ich schon einige Zeit als eher unauffällig kannte, zurecht weisen. Soweit reichte mein neuropsychiatrisches Fachwissen aber doch noch, dass ich mir rechtzeitig bewusst wurde, dass es sich offensichtlich um ein Krankheitssymptom handelte, das ich bisher völlig übersehen hatte. Bei dem darauffolgenden Gespräch erfuhr ich, dass bisher mittels Cannabis die Symptome völlig unterdrückt waren, aber der Patient diesmal nichts auftreiben hatte können, was die Symptomatik wieder voll zum Ausbruch gebracht habe.
Allerdings lernte ich unter den unzähligen Patienten, die auch Cannabis konsumierten auch einige wenige kennen, denen es gar nicht gut getan hatte. Sie hatten durch den Gebrauch von Cannabis eine paranoide Psychose erworben, die auch nach Abstinenz nicht mehr ganz verging. Sie waren nicht hoch psychotisch, aber litten darunter, sich beobachtet zu fühlen und waren komische Einzelgänger.
Bei allen Patienten, die eine Psychose entwickelt hatten, war dies schon sehr bald, nach kurzem Konsum geschehen. Sie waren alle noch sehr jung, als die Symptome auftraten. Ich nehme also an, dass man, wenn man auf Cannabiskonsum hin psychotisch wird, das aufgrund einer persönlichen Neigung schon sehr bald (vielleicht beim ersten Konsum) wird. Dass so etwas mit besonders hohen Dosierungen oder jahrelangem Konsum zusammenhängen würde, habe ich nicht beobachtet.
Insgesamt sind es sicher Einzelfälle, die auf Cannabiskonsum hin psychotisch werden.
Eine andere Beobachtung machte ich schon häufiger: Einige meiner Cannabiskonsumenten führten ein sehr entspanntes Leben, leider ein zu entspanntes. Sie hatten überhaupt keine Lust mehr sich in irgend einer Form für irgendetwas anzustrengen. Dieses sogenannte „amotivationale Syndrom“ hing offensichtlich schon mit der Dosishöhe und der Häufigkeit des Konsums zusammen.
Erstmals nahm ich auch wahr, dass es zahlreiche wissenschaftliche Literatur zur Anwendung von Cannabis in der Medizin gibt und andernorts die medizinische Anwendung von Cannabis sehr seriös gepflegt wird und nicht den schmuddeligen Beigeschmack hat, den es in dem von mir erlebten Kontext hatte.
In Wien war schon zur damaligen Zeit Dr. Kurt Blaas ein Pionier der Anwendung von Cannabis in der Medizin. Ich nahm also mit ihm und der von ihm gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Cannabis in der Medizin Kontakt auf, um mir die praktischen Informationen zu beschaffen, die für die Verschreibung von Cannabis hilfreich waren. Kurt Blaas war sehr bereitwillig mir zu helfen und schon bald konnte ich nun aktiv daran gehen, Cannabis zu verschreiben.
Der Zuspruch an Patienten war gegeben und ich konnte erste Erfahrungen als Verschreiber von Cannabis sammeln.
Es kamen auch viele Patienten mit dem Anliegen einer befürwortenden fachärztlichen Stellungnahme in Sachen Cannabismedizin zu mir.
Während die meisten Patienten, die eine medizinische Behandlung mit Cannabis wünschten, sehr seriös waren und medizinisch davon profitierten, waren unter den Klienten, die ein Gutachten wollten, relativ viele mit unseriösen Ansinnen. Oft wurde von Cannabiskonsumenten versucht, ein Gutachten zu erlangen, das unter dem Vorwand der medizinischen Notwendigkeit einen Freibrief für den Freizeitgebrauch von Cannabis sein sollte.
Nun habe ich persönlich keine Vorbehalte gegen Menschen, die Cannabis konsumieren, aber als Gutachter kann ich dieses Ansinnen einfach nicht mittragen. Ich kann weder den nicht medizinisch indizierten Cannabiskonsum empfehlen (da er ja verboten ist), noch kann ich Unwahrheiten behaupten, oder unredlich argumentieren, um den Schein der medizinischen Indikation zu erwecken.
Unter anderem aufgrund solcher Vorfälle und allgemeinem Zeitmangel wollte ich mich ganz aus diesem Bereich zurückziehen.
Inzwischen war die Beschäftigung mit Heilpflanzen zu meinem großen Hobby geworden. Ich absolvierte pharmakobotanische Exkursionen und erwarb mein Diplom für Pflanzenheilkunde. Außerdem entwickelte ich Schwerpunkte in Schmerzmedizin und Palliativmedizin. Und überall begegnete mir der Einsatz von cannabisbasierten Medikamenten als durchaus von seriösen wissenschaftlichen Fachkreisen anerkannte Methode.
Ich überlegte also, wieder Cannabis in der Medizin einzusetzen. Anfangs lehnte ich Verschreibungen von cannabisbasierten Medikamenten noch ab. Aber die Anfragen von ganz seriösen Patienten nahmen ebenso zu, wie schriftliche fachärztliche Empfehlungen. Ausschlaggebend für mich, wieder mit der Verschreibung von cannabisbasierten Medikamenten zu beginnen, war schließlich die schriftliche Empfehlung eines mir persönlich bekannten Universitätsprofessors, bei einer Patientin mit Migräne und Fibromyalgiesyndrom Cannabis zu versuchen, sowie sein konkretes Ersuchen, die Verschreibung zu übernehmen.
Der medizinische Erfolg ist teilweise bemerkenswert und die Beschäftigung mit dieser schönen Pflanze macht mir Freude.
Allerdings möchte ich nicht verschweigen, dass es auch Misserfolge dabei gab.
Den Grund dafür sehe ich in einer zu breiten Anwendung.
Die Lehren, die ich daraus gezogen habe, sind, dass ich cannabisbasierte Medikamente nur mehr nach ausführlicher Diagnostik und Abwägung aller Therapiealternativen im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes unter Berücksichtigung relevanter Therapieempfehlungen (Leitlinien) anwende.
Dabei beschränke ich mich auf Indikationsgebiete, die ich gut überschaue, also die in mein Spezialisierungsspektrum fallen (Neurologie, Psychiatrie, psychosomatische Medizin, Schmerzmedizin, Palliativmedizin) und für die es in der Literatur positive Empfehlungen gibt.
Weitere Voraussetzungen für die Verschreibung sind eine ausreichende Diagnostik, die Definition von Zielen und Erwartungen und die angemessene Kontrolle der Ergebnisse.
Unter Einhaltung dieser Rahmenbedingungen ist die Verschreibung von cannabisbasierten Medikamenten in der Medizin eine sinnvolle Erweiterung des therapeutischen Spektrums.
Wenn man zu Pro und Contra Cannabis Stellung nehmen möchte, ist es sicherlich sinnvoll, zwischen dem Konsum von Cannabis als Freizeitdroge und dem medizinischen Gebrauch zu unterscheiden.
Konsum von Cannabis als Freizeitdroge:
Wie im Abschnitt „persönliche Erfahrungen mit Cannabis in der Medizin“ schon erwähnt, überblicke ich persönlich viele Cannabiskonsumenten teilweise über viele Jahre.
Zusammenfassend ist meine Meinung, dass Cannabis für den Freizeitgebrauch nicht zu empfehlen ist (wie Alkohol auch). Eine Bestrafung für den Konsum von Cannabis lehne ich aufgrund meines Menschenbildes allerdings ab. Kinder und Jugendliche sollten besonders vor den Gefahren des Cannabiskonsums geschützt werden. Dabei sind vielfältige Ansatzpunkte bei psychosozialen Variablen denkbar. Gelegentlicher Konsum dürfte für die meisten Menschen ohne negative Folgen bleiben. Cannabiskonsum ist mittelbar (Besitz) verboten und kann daher ohnehin zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht empfohlen werden.
Cannabis in der Medizin:
Die Abwägung dieser Tatsachen bringt mich zu dem Schluss, dass Cannabis in der Medizin ein potenziell breites Anwendungsspektrum hat und versuchsweise unter folgenden Bedingungen ohne Restriktionen angewandt werden soll:
Jede Anwendung von Cannabis in der Medizin setzt neben der klaren Indikationsstellung und der Definition eines Behandlungszieles eine Überprüfung des Therapieverlaufs voraus.